Umgang mit unangenehmen Empfindungen

– Mein unangenehmes Erleben (Gefühle & Emotionen) schätzen lernen

Die meisten Menschen kennen nur die Schattenseite des Gefühle-leben’s bei sich und bei anderen, deshalb gelten Gefühle eher als hinderlich / störend statt als hilfreich / heilsam. Doch es hängt komplett davon ab, wie ich mit dieser inneren Empfindung umgehe1. Ich kann mich stets entscheiden, mich von meinen Empfindungen abzuwenden (Weg 1) oder mich ihnen zuzuwenden (Weg 2). Oder in der Sprache des Inneren Kindes: Mein innerer Erwachsene hat stets die Entscheidung, ob ich mich vor den alten Verletzungen meines inneren Kindes schützen will (Weg 1) oder ob ich von meinem inneren Kind lernen will, indem ich ihm einfühlsam zuhöre (Weg 2).

Weg 1: Abwendung von Empfindungen, meist durch Hineinsteigern

Ich (Andreas) wähle meistens Weg 1. Denn wende ich mich meinem Innenleben wirklich fühlend zu, dann werde ich mit sehr starken, unangenehmen Empfindungen konfrontiert. Verständlicher Weise versuche ich reflexartig diese möglichst zu vermeiden. Auch weil ich bisher nur selten erfahren durfte, dass Weg 2 zu tieferen Entspannung und Herzensruhe führt.

Meisten wähle ich die Überlebensstrategie 4 des emotionalen Abreagierens durch ein Täter-Opfer-Drama samt Absolutheitsanspruch (= Sackgasse 3). Doch ich kann auch alle anderen Sackgassen bzw. Überlebenstrategien wählen, um mich vor dem unangenehmen tiefem Fühlen zu schützen (vgl. Sackgassen und Überlebensstrategien).

Die Ausweichstrategie des emotionalen Ausagierens ist jedoch besonders verführerisch, weil sie mir zunächst ein Gefühl von Erleichterung beschert. (Ich erlebe mich als besonders gefühlvoll und damit scheinbar kraftvoll. Ich fühle mich im Recht und scheine die Welt wieder für mich gerade zu rücken.)

Da meine Gedanken und damit auch meine Gefühle jedoch

  1. auf Trennung statt Verbindung ausgerichtet sind, sich gegen das wenden, was ist statt zu versuchen es fühlend anzunehmen und

  2. sich eher in etwas hineinsteigern, was sein sollte, statt zu fühlen, was ist und damit in eine Entspannung, einem inneren Frieden zu gelangen mit dem, was ist,

erschaffe ich damit eine neue Verletzung in mir, (weil meine Ursehnsucht die liebevolle Verbindung mit allem, was ist, ist). Unbewusst bemerke ich, dass mein Widerstand gegen das was ist, mir nicht hilft, weil er nicht wirklich etwas ändert, sondern nur zusätzlich Leid erzeugt, quasi eine aufgestaute Energie hinterlässt. Dennoch bin ich nicht bereit mich dem Gefühl zuzuwenden und verdränge diese neue, unverarbeitete Erfahrung in mein „Un(ter)bewusstsein“. (Vivian Dittmar nennt den Aufbewahrungsort auch „emotionalen Rucksack“.) Dort verbleibt diese unerledigte Erfahrung in der Hoffnung, dass ich mich ihr irgendwann doch mal zuwende, um die aufgestaute Energie entladen zu können.

„Da die Empfindungen, die bei emotionalen Aktivierungen ausgelöst werden, sehr unangenehm sind, liegt es auf der Hand, dass die erste Bewegung, also die des Wegschiebens, fast automatisch passiert. Natürlich wollen wir den Schmerz, den Emotionswust und alles, was damit zusammenhängt, nicht haben, geschweige denn fühlen! Es ist daher als erste Reaktion völlig normal und natürlich, dass wir das Päckchen dem anderen in die Schuhe schieben, die aufkeimenden Empfindungen mit Essen, Drogen oder Facebook zudecken oder sonst eine Strategie wählen, um sie loszuwerden.“ (V. Dittmar, S. 200)

Weg 2: Zuwenden zu meinen Empfindungen, annehmend fühlend

Wenn mein inneres Kind schreit oder tobt, versuche ich (Andreas) es nicht zum Schweigen zu bringen, sondern bin stattdessen mit liebevoller Präsenz ganz bei ihm. Ich steigere mich als liebevoller Erwachsener auch nicht mit dem Kind in seine Trauer oder Wut, indem ich Absolutheitsansprüche erzeuge. Ich bin stattdessen einfühlsam und haltend da. Ich vertraue darauf, dass ich mit der Zeit so viel erleichternde, hilfreiche Erfahrung mit diesem neuen Weg gemacht habe, das er mir nicht nur vertraut geworden ist, sondern das ich im dem Weg 1 vorziehe, weil ich gelernt habe, dass mein durch meine Gefühle behutsam durch zu gehen mir tiefe Verbindung schenkt.

Hinwendung, erfordert daher Einsicht und Bewusstheit. Sie geschieht in der Regel nicht von allein. … Erst durch die bewusste Hinwendung zu den schwierigen Empfindungen geschehen Transformation, Heilung und Klärung, die dann auch mit positiven Empfindungen einhergehen. Doch der Prozess der Hinwendung erfordert immer wieder Mut und Beharrlichkeit. Und natürlich die Bereitschaft, auch unangenehme Gefühle und Emotionen zu fühlen. Dadurch intensivieren sich die unangenehmen Empfindungen zuerst, da wir uns ihnen annähern, uns auf sie einlassen. Wenn Bewusste Entladung zugelassen wird, kommt es jedoch schon bald zu einer Veränderung. Die unangenehmen Empfindungen werden abgelöst durch angenehme Empfindungen wie Friede, Liebe oder Mitgefühl. Diese Erfahrung führt zu einer positiven Verstärkung. Das System lernt, dass dieser zweite Weg belohnt wird, wodurch er mit jedem Mal natürlicher wird. Bis er schließlich selbstverständlich ist und der andere, bislang vertraute Weg seinen Reiz verloren hat.“ (V. Dittmar, S. 200f)


Fußnoten

1 Anmerkung: M.B. Rosenberg (Gewaltfreie Kommunikation) sprach anfangs auch von positiven und negativen Gefühlen, irgendwann erkannte er, dass diese Wortwahl kontraproduktiv ist und unterschied die Gefühle nur noch darin, ob sie anzeigen wollen, dass meine Bedürfnisse gerade alle erfüllt sind oder eben nicht. Pema Chödrön (buddistische Mönchin) betont, dass es nicht darum geht die „schlechten“ Gefühle auszumerzen. Sie sagt weiter, dass wir ein viel lebendigeres, authentischeres Leben führen können, wenn es uns einerlei ist, ob unser Erlebtes nun süß oder sauer schmeckt, wir also alle Gefühle und Erfahrungen gleichermaßen willkommen heißen. Damit meint sie allerdings nicht (im Sinne des positiv Denkens), dass wir sie nicht mehr als unangenehm empfinden sollen, sondern nur nicht mehr stets nach Angenehmen streben, sondern stattdessen vorbehaltlos schauen, was in uns lebendig ist, egal wie es sich anfühlt. – zurück zum Text