Spannungsfeld der Vielfalt

Kennst Du das auch?

Du startest gemeinsam mit anderen Menschen ein tolles Projekt, und ihr seid guten Mutes, dass alle Mitwirkenden im selben Boot sitzen und die Welle der Begeisterung euch weithin tragen wird. Doch irgendwann tauchen die ersten Wölkchen auf. Meinungsverschiedenheiten werden urplötzlich zu ernsten Konflikten, und schon treiben immer dunklere Wolken am gerade noch so sonnigen Gruppenhorizont.
Doch was dann tun? Krampfhaft die „Harmonie“ aufrechterhalten und so tun, als wäre nichts, solange, bis die Wolken zu echten Gewitterwolken werden und mit Blitz und Donner alles zerschlagen? Oder lieber gleich mit Blitz und Donner loslegen, „Klartext sprechen“ und den anderen unsere „Wahrheit“ um die Ohren hauen, koste es, was es wolle? Wie viele wertvolle Projekte scheitern an genau diesem Punkt, weil sie den dritten Weg nicht finden, den Weg des Herzens!

Auch wir von Visiana und wir aus der Lebensgemeinschaft „Ein neues Wir“ kennen solche brenzligen Situationen gut, und auch wir haben schon oft schmerzhaft erlebt, wenn die Energien sich gegenseitig blockieren, anstatt sich zu ergänzen, ja wenn sie sich manchmal sogar gegeneinander richten.

Eine Geschichte aus irgendeinem Gemeinschafts-Alltag

Dort treffen wir Fritz, Frieda, Jutta und Rolf.
Fritz ist Ökologe, und ihm ist es besonders wichtig, dass die Gruppe auf ökologische Aspekte achtet. Er hasst es geradezu, wenn eine Lampe versehentlich nicht ausgeschaltet oder das Gemeinschaftsauto nicht möglichst sparsam gefahren wurde.
Frieda hingegen ist gerade in einer Phase ihres Lebens, in der sie nach längerer Krise wieder ihre Freiheit und Lebensfreude entdeckt und sich danach sehnt, endlich wieder Fülle zu spüren. Für sie ist es in dieser Lebensphase existenziell wichtig, alle Vernunft beiseite zu lassen und einfach das zu tun, was ihr Freude macht, auch wenn sie dabei einmal nicht auf ökologische Korrektheit achtet.
Jutta, die Finanzexpertin, hat wiederum ganz andere Prioritäten. Sie will in Baumaßnahmen investieren, um Wohnraum für Neue zu schaffen, denn das Projekt braucht dringend mehr Mieteinnahmen! Sie hat allerdings errechnet, dass das für die Baumaßnahmen vorhandene Budget nicht ausreichen wird, wenn ausschließlich teure ökologische Materialien verwendet werden sollen und schlägt vor, hier Kompromisse zu machen. Jutta will übrigens auch, dass Frieda aus Kostengründen mehr auf ihren Energieverbrauch achtet, was ihr nicht gerade Friedas Sympathie einbringt.
Das bringt Rolf in Not, denn es trifft ihn genau dort, wo es um seine höchsten Werte geht, ja um die Werte, weshalb er überhaupt diese Gemeinschaft mit aufgebaut hat! Ihm ist das soziale Miteinander und die Harmonie gerade besonders nah, und er versucht verzweifelt, den Konflikt zu lösen und für Frieden zu sorgen. Leider jedoch hat er zu wenig Erfahrung in Konfliktlösung, so dass er den anderen mit seinen Friedensstiftungsversuchen eher auf die Nerven geht. Außerdem wird er, selbst Mitglied der Gemeinschaft, als Mediator nicht genug akzeptiert, denn er steckt ja ebenfalls mittendrin im Prozess und ist emotional stark darin verwickelt.
Auweia – der Gemeinschaftshimmel beginnt sich zu trüben, die Mundwinkel sinken immer mehr nach unten und die Ellbogen werden schon deutlich spitzer. Was kann helfen?

Doch es gibt etwas, das unserer Gruppe bisher immer wieder geholfen hat, diese Turbulenzen zu meistern, und dieses Etwas gibt uns Vertrauen in die Zukunft unseres Miteinanders: Es ist das intensive Streben, immer wieder in Herzensverbindung zu kommen, jede/r mit sich selbst und alle mit allen.

Was bedeutet es, in Herzensverbindung zu sein?

Bei mir (Micha) ist es so: Je mehr ich spüre, was wirklich in mir vorgeht, und je mehr ich von Herzen davon spreche, wie ich mich gerade fühle und was ich mir von den anderen wünsche, umso mehr kann ich ganz da sein und mich offenhalten für echte Begegnung. Und je mehr ich einfühlsam wahrnehmen kann, was in dem anderen vorgeht, nicht kühl-analytisch, sondern warmherzig-erspürend, umso mehr kann ich den anderen wirklich als Menschen kennenlernen, der sich, so wie ich, wahrscheinlich von Herzen wünscht, in guter Verbindung zu sein. Die Wärme, die dabei in mir und in den Anderen entsteht, und die gemeinsame Nähe, die wir dabei empfinden, nenne ich Herzensverbindung.

Ist diese Konfliktlösungsstrategie übertragbar?

Da ich (Micha) solche Geschichten auch bei meinen Besuchen in anderen Gemeinschaften und auch als Gruppenmoderator in verschiedensten Gruppen und Teams gefunden habe, gehe ich davon aus, dass es sich um ein allgemeingültiges Phänomen handelt und wir systemisch daraus lernen können. Mit dem Bild der Visiana-Blume versuche ich, die überall zu beobachtende Dynamik bewusster zu machen, damit wir wandelbewegten Menschen folgendes besser erkennen können:
Auch wenn wir alle im gleichen Boot sitzen, sind wir doch alle sehr verschieden. Und auch wenn wir alle sehr verschieden sind, sitzen wir doch immer auch in einem gemeinsamen Boot und streben einer gemeinsamen Vision zu.
Dies ist das energiegeladene Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft, das uns hin und her wirft, ein Spannungsfeld voller Möglichkeiten und auch voller Herausforderungen. In einer Gemeinschaft treffen sich viele Menschen, die im Herzen alle Teil desselben großen Traums sind, die sich diesem Traum dabei von unterschiedlichen Standpunkten her nähern. Und da ich glaube, dass wir auch als Menschheit Teil dieses großen Traums sind, ist die Dynamik innerhalb einer Gemeinschaft ein holografisches Abbild jenes großen Lernprozesses, in dem sich unsere gesamte Welt befindet. Dieses Bild macht mir Hoffnung, und es erfüllt die oft schwierigen Lernprozesse, die wir als Gruppe immer wieder durchlaufen, für mich mit tiefem Sinn.

Zum Weiterlesen

 

„Liebe ist das erste Gefühl, das du spürst,

bevor der ganze doofe andere Kram

sich dazwischen stellt.“

(aus „Indigokinder erzählen“)