Umgang mit „Störungen“: Mich zumuten versus den anderen freilassen

Umgang mit meiner Bedürftigkeit oder wer hat wofür die Verantwortung

Für mich (Andreas) gilt, nur ich bin verantwortlich für meine Bedürfnisse. Dem anderen kann es eine Freude sein, meine Bedürfnisse zu erfüllen, anderseits ist es nicht automatisch und immer so (vgl. Grundannahmen der Lebwendig-Initiative). Da mein sehnlichster Wunsch ist, Liebe und Verbundenheit in die Welt zu bringen, möchte ich, dass andere meine Bitte nur aus Freude ohne Selbstaufgabe erfüllen und nicht aus Angst, Scham, Schuldgefühl oder Verpflichtung.

  • Darf ich meine Bedürftigkeit als Bitte an den anderen herantragen?
  • Auch wiederholt?
  • Auch, wenn es dem anderen unangenehm sein könnte?
  • Auch, wenn ich sicher von ihm weiß, dass es ihm unangenehm ist?
  • Gibt es bei den Fragen vielleicht gar kein richtig und falsch, erlaubt und verboten?
  • Geht es vielleicht nur darum zu schauen, wo für mich das Gleichgewicht zwischen Selbst- und Fremdliebe stimmt? Und ob ich vielleicht Alternativen sehe, um für meine Bedürftigkeit zu sorgen?
  • Und wenn ich aus meiner inneren Not heraus den anderen bedränge, kann ich noch im Nachhinein einfühlsam mit meinem trennenden Verhalten umgehen oder muss ich es verurteilen?

Wie auch die Gemeinschaft für die Bedürfnisse des Einzelnen Sorge tragen kann, zeige ich im Abschnitt „die Verantwortung der Gruppe für den Einzelnen“ auf.

Einstiegsbeispiel: „Übersteigerte“ Unsicherheit

Ich (Andreas) brauche für mein Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit, die (aktive) Versicherung von den anderen, dass ich in meinem So-Sein, wie ich mich gerade traue es zu zeigen, angenommen bin.

Darf ich das einfordern, quasi als Gruppenregel setzen? Nein. Damit lasse ich den anderen nicht mehr frei.
Darf ich immer wieder für meine emotionale Sicherheit sorgen, indem ich die anderen bitte, mir zu helfen, das Gefühl der Annahme zu spüren? Ja.
Dieses Ja löst Angst in mir aus, weil ich befürchte (oder genauer: denke), dass ich wiederum Unmut und Gereiztheit bei den anderen durch meine wiederholenden Fragen auslöse. Vielleicht denken sie:
  • „Was soll ich denn noch anders machen, damit er endlich sich sicher fühlt?! Das ist sein Problem, ich will nicht ständig damit konfrontiert werden (nicht seine Projektionsfläche sein). Das ist mir zu anstrengend, ich will in der Zeit lieber anderes teilen, z.B. Freude.“ oder
  • „Ich will mich nicht ständig schuldig fühlen, nur weil ich wie immer rede und er sich so leicht verunsichern lässt.“ oder
  • „Da kann dir keiner helfen. Du musst lernen mit Meinungsverschiedenheiten leben zu können. Du bleibst doch wie du bist, egal was die anderen denken. Du musst dich unabhängig machen von den Meinungen der anderen.“

Andererseits könnte die Reaktion auf meine Selbstoffenbarung auch lauten:
„Oh, vielen Dank für Deine Offenheit. Ich bin gerade ganz berührt. Deine Offenheit gibt mir Mut, auch mich ganz zeigen zu dürfen. Danke für Dein Vertrauen, dass Du Deine Verletzlichkeit mit uns teilst. Das ist die Menschlichkeit und die tiefe Verbindung nach der ich mich so sehr sehne. Gleichzeitig spüre ich eine unangenehme Ohnmacht. Ich weiß gerade gar nicht, wie ich Dir helfen kann und ich wünsche mir so sehr, dass wir uns alle hier angenommen wissen.“

Wie wir damit umgehen, wenn meine Bitte um Annahmebestätigung nicht freudestrahlend angenommen wird, zeigt der folgende Abschnitt.

Was ist eine „übertriebene“ Zumutung und wie gehen wir damit um

…am Beispiel das „man“ des anderen triggert mich – Redner unterbrechen? Was ist mit seinem „Rederecht“?

  • Ist ein Zumuten in gewohnter Weise, z.B. sprechen per „man“, eher zu tolerieren, als eine Selbstoffenbarung, was dieses „man“ in mir auslöst?
  • Ich will doch den anderen annehmen, wie er ist und gleichzeitig mich ernst nehmen und für mich sorgen, indem ich meine inneren Nöte einbringe.
  • Wie viel Zeit (Raum) darf diese individuelle Verletzlichkeit einnehmen? Was ist tragbar für den, der gerade spricht? Was für die ganze Gruppe?
  • Sind wir bereit nach ungewohnten Wegen zu suchen, dass wir beiden gerecht werden: dem der gerne weiter reden möchte und dem, den das „man“ gerade unangenehm triggert? Sind wir bereit zur Lösung des Bedürfniskonflikts differenzierte individualisierte Strategien zu nutzen oder ist uns das zu kompliziert?

Einer mag vielleicht tatsächlich direkt immer darauf aufmerksam gemacht werden, weil er gerne umlernen will. Ein anderer nur, wenn große innere Not bei einem anderen entsteht. Wieder ein anderer möchte dann dafür Zeit abgeben, um die Verbindung wieder herzustellen. Oder er will seine Zeit vollkommen alleine nutzen können und bittet darum das Eigene erst nach seiner Redezeit einzubringen.

Wir versuchen diese Vielfalt zu leben und uns Zeit zu nehmen, dies – falls notwendig – immer wieder zu besprechen.

Zum Weiterlesen